TEM – Traditionelle Europäische Medizin (Teil 1)

Die TCM und Ayurveda sind seit 5.000 Jahren gewachsene medizinische Angebote und erfreuen sich auch in Europa immer größerer Beliebtheit. Das Wissen der Traditionellen Europäischen Medizin ist hingegen fast von der Schulmedizin verdrängt worden und in Vergessenheit geraten. „Vor allem durch das Aufkommen der wissenschaftlichen Medizin wurde Krankheit nur mehr mit materiellen Veränderungen am Körper definiert. Die Säftelehre wurde als völliger Unsinn abgetan und geriet in Vergessenheit“, erklärt Allgemeinmedizinerin und TEM-Expertin und Buchautorin Dr. Regina Webersberger. Mittlerweile wird jedoch die funktionelle Sicht auf Krankheiten und Behandlungen als wichtige Ergänzung wieder anerkannt. Die systematische wissenschaftliche Erforschung und Bewertung steht aber noch ganz am Anfang.

Die Traditionelle Europäische Medizin (TEM) ist ein System der Naturheilkunde, das sich in Europa in den vergangenen Jahrhunderten bis Jahrtausenden entwickelt hat. Ausgehend von der Medizin des alten Ägypten, des Zweistromlandes und des alten Griechenland formulierte Hippokrates von Kos erstmals die Säftelehre als symbolische Beschreibung der Vorgänge im menschlichen Körper. „Krankheit wird mit einem Ungleichgewicht der Säftemischung im Körper gleichgesetzt und die empfohlenen Behandlungen sollen Patienten helfen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen“, erklärt Dr. Regina Webersberger.

Vorstellungen der TEM

Die Vorstellungen der TEM entspringen der Naturphilosophie der alten Griechen und der Elementenlehre von Empedokles von Agrigent. In späteren Jahrhunderten wurden sie immer wieder abgewandelt. Die Behandlungen variierten ebenfalls nach Region und Epoche. Überliefert sind Wassertherapien, Heilschlaf, Bewegungstherapien, Fasten, Aderlass, Diaita (richtige Lebensweise) und natürlich Kräuter.

Die TEM geht von einer dem Körper innewohnenden Lebenskraft aus, sie wird bei allen Therapien im Sinne der Selbstheilung unterstützt oder angeregt. Regina Webersberger: „Für Hippokrates war der menschliche Körper nicht von der ihn Natur getrennt, sondern ein Teil des Ganzen. Er unterliegt denselben Gesetzen wie die Natur und folgt auch ihren Rhythmen.“ Zur Beschreibung werden daher die damals in der Naturphilosophie üblichen vier Elemente und daraus abgeleitet die vier Körpersäfte (Sanguis = Blut, Phlegma = Schleim, Chole = gelbe Galle und Melanchole = schwarze Galle) verwendet.

Vier Säfte – vier Grundprinzipien

Diese vier Säfte stellen vier Funktionsprinzipien im Körper dar. Sie sind wiederum eine Kombination aus den zwei Lebensgrundlagen Wärme und Feuchtigkeit oder anders ausgedrückt Energie und Substanz. Diese Vorstellung existiert in der chinesischen Medizin ganz ähnlich im Gegensatzpaar Yin und Yang oder auch Chi und Xue (Chi und Blut).

„In der TEM wird die Idee noch in die Richtung weiterentwickelt, dass jeder Mensch einen oder zwei dominierende Körpersäfte hat“, erläutert die Expertin. „Dies entstand möglicherweise aus der Erfahrung, dass das äußere Erscheinungsbild eines Menschen auf bestimmte Charakteristika des Stoffwechsels hindeutet. So entstand eine Typologie bzw. eine Konstitutionslehre.“ Daraus lassen sich gewisse Neigungen zu Krankheiten und typische Erkrankungsmustern ableiten. Die Bezeichnungen Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker werden heute in erster Linie als Charaktereigenschaften gesehen, in der TEM haben diese Begriffe eine umfassendere Bedeutung.

Konzept der Lebensregeln

„Die Erhaltung der Gesundheit war in früheren Zeiten sehr wichtig, da es nur sehr beschränkte Behandlungsmöglichkeiten gab. Vorbeugung war lebensnotwendig“, erklärt Regina Webersberger. Schon Galen definierte im 2. Jahrhundert nach Christus sechs gesundheitsrelevante Themenbereiche, die großen Einfluss auf die Funktionen unseres Körpers haben (6 res non naturales).

Die Einsicht, dass unser Lebensstil einen Einfluss auf unsere Gesundheit hat, ist damals und heute noch immer sehr aktuell. Auch das emotionale und seelische Gleichgewicht beeinflusst unser System. Ausgewogenheit ist das Ziel, übermäßige Betonung eines Lebensaspektes führt auf Dauer zu Problemen.

Unterschiede zur TCM

Die TCM hat eine Geschichte, die ebenfalls mehrere tausend Jahre zurückgeht. Basierend auf einigen klassischen medizinischen Schriften hat sie sich bis ins 20. Jahrhundert ebenfalls in einer großen Vielfalt von Methoden und Schulen erhalten. Es war die visionäre Autorität von Mao Tse-tung, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts anordnete, die vielen verschiedenen teilweise von Barfußärzten ausgeübten Methoden in ein verständliches und unterrichtbares System zu fassen.

Regina Webersberger: „Was wir heute als TCM kennen, ist das sehr erfolgreiche Konstrukt aus diesen über Jahre und Jahrzehnte währenden Bemühungen. Anders als in Europa wurde das in Laienkreisen vorhandene Erfahrungswissen aufgegriffen und gezielt überprüft. Auf diese Weise wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen, und das System der TCM gelangte zu einer Perfektion, die bis heute auf der ganzen Welt anerkannt wird.“

In Europa war der Entwicklungsweg ein anderer. Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Medizin wandelte sich der ärztliche Blick dramatisch in Richtung Nachweis von materiellen Veränderungen am Körper als Krankheitsdefinition. Die Säftelehre wurde als völliger Unsinn abgetan und geriet in Vergessenheit. „Jetzt beginnt aber wieder die systematische wissenschaftliche Erforschung und Bewertung. Erste vielversprechende Ansätze gibt es in Deutschland, z.B. an der Charité in Berlin“, so Regina Webersberger.

Die Unterschiede zwischen TEM und TCM liegen in der Sichtweise auf den Menschen. Die fünf Elemente in China und die vier Elemente (bzw. Säfte) in der TEM sind Ausdruck dieser Philosophie. Im Ayurveda gibt es drei Doshas und auch damit lässt sich ein in sich schlüssiges System schaffen. Die bildhafte Beschreibung der Vorgänge im Körper kann auf verschiedene Arten funktionieren. Der größte Unterschied liegt in der Sprache. Europäischen Ärzten sind aber TEM-Konzepte ebenso wie die verwendeten Kräuter vertrauter.

Magazin Zoë 05/16

TEM Praxisbuch
TEM Praxisbuch

 

S. Wintgen, R. Webersberger; Traditionelle Europäische Medizin, Kneipp-Verlag Wien 2015; ISBN: 978-3-7088-0621-1

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