Der Umstand, dass wir auf eine Karrikatur gestoßen sind, die in den 70er-Jahren die Mariahilfer Straße als Fußgängerzone karikierte, weil zum damaligen Zeitpunkt die Fußgängerzone in der Kärntner Straße zur Diskussion stand, fanden wir sehr amüsant. Vor allem, weil der Schuss damals nach hinten losging und die Menschen die Idee als schön und wünschenswert sahen. Nun, über 40 Jahre später, wurde es zur Wirklichkeit. Wir nahmen das zum Anlass, den Menschen zu porträtieren, der das damals initiiert hat. Die Rede ist von Victor Gruen, einem außergewöhnlichen Mann, dessen Interesse immer darin bestand, die Stadt als lebenswerten Raum für Menschen zu gestalten, und der mit seinen Ideen bereits zu seiner Zeit Nachhaltigkeit bewies.

Ihm ging es immer um soziale, menschliche und ökologische Aspekte. Er war einer der bekanntesten Architekten des 20. Jahrhunderts und gilt als der Erfinder der Shopping-Malls und der Fußgängerzone. Doch die Vaterschaft an den Shopping-Centern lehnte er später klar ab: „Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardobjekte zu zahlen. Sie haben unsere Städte zerstört.“

In Österreich gilt Victor Gruen als geistiger Vater der ersten Wiener Fußgängerzone, die 1974 trotz heftigster Kritik in der Kärntner Straße eingerichtet wurde. Sein damaliges Argument: „Autos kaufen nichts!“ Spaßhalber schlugen seine Kritiker vor, auch gleich die Mariahilfer Straße zu begrünen und von den Autos zu befreien. Das wurde letztlich Realität. Aber der Konsum beherrscht mittlerweile nicht nur die Einkaufszentren und die Städte, sondern ist in unserer Gesellschaft zum obersten Prinzip geworden.

Der Gruen-Effekt

Unter dem Gruen-Effekt versteht man die Desorientierung, die auf Besucher eines Shopping-Centers angesichts der Unübersichtlichkeit und Größe des Gebäudes einwirkt. Diese strategische Verwirrung führt dazu, dass die ursprünglichen Ziele des Besuchs und die klaren Kaufwünsche von einem ziellosen Flanieren, Schauen und Kaufen verdrängt werden. Beim Gruen-Effekt wird den Konsumenten die Identität gestohlen, sie werden Teil dieses Theaters und müssen sich den Weg aus dem Geschäft quasi freikaufen. Das ist Verführung und Manipulation zugleich. Der Name des Effekts geht auf Victor Gruen zurück. Der hatte aber eigentlich eine ganz andere Idee mit diesen Shopping-Towns.

Alles begann in Wien
Victor Gruen
Victor Gruen – der Nachhaltigkeits-Pionier

Geboren wurde er in Wien am 18. Juli 1903 als Victor David Grünbaum. Die Hauptstadt pulsierte damals mit seinen Theatern, Kabaretts, Konzerten und Kaffeehäusern, war ein lebendiges Zentrum des geistigen und kulturellen Treibens. Das Rote Wien der Zwischenkriegszeit beeinflusste Victor Gruen nachhaltig. Er kritisierte offen die Nationalsozialisten und war bekennender Sozialdemokrat.

Heute unvorstellbar: der Wiener Graben, als er noch von Autos befahrbar war.Zwischen 1926 und 1934 renovierte Victor Gruen kleine Geschäfte und Wohnungen (unter anderem von Otto Bauer), am Abend leitete er ein politisches Kabarett mit einer Gruppe Sozialisten um Jura Soyfer und Robert Ehrenzweig. „Dort kämpften 30 Theaterbegeisterte mit Witz, Charme und Ironie gegen den Faschismus“, erinnerte er sich später in Interviews.

1934 verboten

Das Kabarett wurde 1934 verboten. Victor Gruen verbrannte alle Programmhefte und Unterlagen und gab ein Versprechen ab: „Wenn sich möglichst viele von uns nach New York durchschlagen, werde ich dort eine Wiener Theatergruppe organisieren.“ Niemand glaubte damals daran; aber seine Hartnäckigkeit setzte sich durch. Das Reunion-Konzert fand Jahre später in New York wirklich statt.

Aber seine Ausreise aus Österreich war schwierig. Über Umwege schaffte es Victor Gruen ins Reisebüro, um Flugtickets für die Schweiz zu kaufen. Dort erreichte ihn ein Anruf: „Bleib wo du bist, eure Wohnung wurde von der Gestapo besetzt.“ In der Not telefonierte er mit seinem Tischler. Drei Stunden später stand dieser als Sturmtruppenführer verkleidet vor der Tür. Victor Gruen: „Er fuhr uns in seiner gestohlenen Uniform zum Flughafen und rettete uns so das Leben!“

Ankunft in New York

Als Victor Gruen 1939 nach New York kommt, arbeitet er vorerst am Broadway und gestaltet Bühnendesigns. Schon bald bekommt er aber von österreichischen Geschäftsleuten Aufträge, ihre Shops in New York neu zu gestalten. Für das Geschäft „Lederer“ entwickelt Victor Gruen damals jene Elemente, mit denen er Jahre später die Shopping-Mall bauen wird. Die Formen sind auf das Notwendigste reduziert, sind in jeder Größenordnung einsetzbar – sowohl in der Innenarchitektur wie in der Stadtplanung. Schon bald folgten größere Aufträge.

Gemeinsam mit seiner Frau Elsie Krummeck schrieb Victor Gruen 1943 für eine Architekturzeitschrift einen richtungsweisenden Artikel. Das Vorbild eines europäischen Stadtkerns im Hinterkopf, skizzierten sie ein multifunktionales Einkaufszentrum: die Shopping-Town. Für die zersiedelte US-Vorstadt sollte dadurch eine kombinierte Bühne für soziale und kommerzielle Interaktion entstehen. Die neuen Zentren waren als sozialer Kristallisationspunkt des Gemeinschaftslebens gedacht.

Von der Shopping-Town 
zur Shopping-Mall

In der Autostadt Detroit griff der Besitzer des Hudson-Kaufhauses den Vorschlag auf und 1954 wurde das erste Einkaufszentrum eröffnet: das Northland Center. Dort waren das Hudson-Kaufhaus, 80 Geschäfte, ein Auditorium, Kaffeehäuser, ein Theater und ein Postamt untergebracht.

Das Problem: Victor Gruen unterschätzte die Gier des Kapitals. Denn findige Geschäftsleute erkannten bald, dass diese sozialen Strukturen wie Postämter oder Theater nicht notwendig waren. Aus den Shopping-Towns wurden Shopping-Malls mit einem einzigen Ziel: Jeder Quadratmeter diente der Profitmaximierung. Alles wurde dem Denken nach mehr Kommerz, Geld und Profit untergeordnet. Aus der polyfunktionalen Shopping-Town wurden reine Verkaufsmaschinen. Das neue Modell der Shopping-Mall wurde über ganz Amerika verbreitet. Die tragische Nebenerscheinung: Die existierenden Stadtzentren wurden zerstört.

Victor Gruen: „Die Geister, die ich gerufen hatte, übernahmen unheilvoll die ganze Welt. Von Profitgier beflügelte Super-Einkaufsmaschinen machten aus Stadtkernen leere Schalen. In den Innenstädten wohnten in der Zwischenzeit nur noch diskriminierte Bevölkerungsschichten, die privilegierten Weißen waren weggezogen.“

 Zurück in Wien
Heute unvorstellbar: der Wiener Graben, als er noch von Autos befahrbar war

In den späten 60er-Jahren kehrte Victor Gruen nach Wien zurück und beschäftigte sich mit der Revitalisierung der Stadtzentren. Denn während er versucht hatte, das europäische Stadtzentrum auf die US-Vorstädte zu übertragen, waren konsumorientierte Shopping-Malls bis nach Europa vorgedrungen und drohten auch hier das Modell des urbanen Lebens zu zerstören. Victor Gruen nahm in seiner Geburtsstadt den Kampf gegen das Auto, für Fußgeherzonen und eine belebte Innenstadt auf.

Willkommen war er in Wien aber nicht. Die Wiener Architektenkammer erkannte Victor Gruen den Titel Architekt ab und stellte ihn 1967 vor Gericht, weil er als Jude im nationalsozialistischen Wien versäumt hatte, sein Studium abzuschließen. Als einer der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts wurde er in Wien verurteilt, durfte nur mehr den Titel „architect“ führen und musste sogar 10.000 Schilling an die Kammer zahlen. Er nahm’s mit Galgenhumor: „Hoffentlich wird mich der Kellner im Landtmann ab jetzt mit Herr Architect ansprechen …“

Umweltpionier und Stadtplaner

Viel früher als andere Menschen wurde Victor Gruen zum Visionär einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung und beschäftigte sich mit Alternativen zu Autoverkehr und Atomstrom.In Wien gründete er 1973 das Zentrum für Umweltfragen. Schon 1977 schlug Victor Gruen eine raschere Verbreitung der Sonnenenergie, Wasserkraft und Erdwärme in Österreich vor.

Als Städteplaner versuchte er seine ökologischen Ideen umzusetzen. Ziel müsse immer ein Streben nach höchster Qualität des menschlichen Lebens in Harmonie mit der Natur sein. Victor Gruen empfahl, die ganze Wiener Innenstadt als Umweltoase mit Fußgängerzone zu adaptieren.

In seiner Charta für Wien finden sich die Grundlagen einer ökologisch verträglichen und menschengerechten Stadtentwicklung. Viele Ideen sind bis heute gültig. In Wien sind Projekte wie Donauinsel, Stadtentwicklung, die Fußgängerzone oder die Citybusse auf ihn zurückzuführen.

Letztlich wurden aber in Wien nur Teile seines Konzepts umgesetzt. Viele Maßnahmen stießen auf offenen Widerstand. Dennoch wurden 1974 die Kärntner Straße und der Graben zur Fußgängerzone umgebaut.

Vater der ersten Wiener Fußgängerzone

In Österreich gilt Victor Gruen seither auch als geistiger Vater der ersten großen Wiener Fußgängerzone. Aus Spott über die Idee der grünen belebten Innenstadt schlugen damals seine Kritiker vor, gleich die Mariahilfer Straße zu begrünen und von den Autos zu befreien. Eine Karikatur in einer Autozeitschrift zeigte diese begrünte Mariahilfer Straße. Dass 2015 die Fußgängerzone auf der Mariahilfer Straße Realität ist, hätte Victor Gruen sicher gefreut; er starb aber 1980 in Wien.

Allerdings wäre Victor Gruen mit der Umsetzung seiner Ideen nicht ganz einverstanden gewesen. In der Reali-tät hat der Gruen-Effekt, den zielorientierten Käufer in flanierende Shopper zu verwandeln, auf das ganze Leben übergegriffen. Mittlerweile huldigen ganze Städte nur mehr den Göttern der Warenwelt, das soziale Zentrum ist verloren gegangen. Konsum ist zum obersten Prinzip der Stadtplanung, der ökonomischen Strukturen, der sozialen Beziehungen und auch der Politik geworden. Dennoch liegt die letzte Entscheidung bei uns: Definieren wir uns als denkende Menschen oder als fremdgesteuerte Konsumenten?

 

The Gruen Effect www.dergrueneffekt.at
Der Gruen Effekt (Shop): A. Baldauf, K. Weingartner, Dokumentarfilm, Wien 2012;
www.hoanzl.at/der-gruen-effekt-the-gruen-effect.html
Filmfonds Wien: www.filmfonds-wien.at/filme/der-gruen-effekt

Foto Victor Gruen: pooldoks/Victor Gruen Associates
Foto Graben: Ingeborg & Andreas Schneider / Privatarchiv Philipp Schneider
Mehr Wien-Bilder aus der Zeit gibt es in dem Buch „Vintage Vienna“,
Infos: vintagevienna.at

Magazin Zoë 01/15

 

Vorheriger ArtikelAmateurtheater: Soles del Sur
Nächster ArtikelEcht kräftig: Sanddorn