Sex hat in unserem Leben einen großen Stellenwert – in der Gesellschaft, in den Medien oder auch in der Werbung. Aber sind die Menschen heute erfüllter und offener als früher? Sex und Irrtümer: Klar ist, dass man sehr viel Geld mit Sexualität machen kann und macht. Es lebt nicht nur die riesige Sexindustrie sehr gut davon. Sex ist für die gesamte Wirtschaft ein wichtiger Faktor.
Über Sex wird so gut wie alles verkauft – Nudeln, Eis, Parfum, Autos, Mode oder Schokoriegel. Eigentlich geht es aber dabei zumeist um unerreichbare Fantasien – denn die gelebte Realität sieht anders aus. Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna räumt mit Sexualmythen auf und weiß, wie Mann und Frau tatsächlich glücklich werden im Bett. Wir sprachen mit ihr über Stellenwert und Tabus zum Thema Sex und das Thema Orgasmus. Ihr Resümee: Jeder Mensch ist für seine Erfüllung und seinen Orgasmus selbst verantwortlich – und auch hier ist der Weg das Ziel.
Sex ist nicht immer und überall das Thema Nummer 1. Vor allem in der Paarbeziehung hat Sexualität einen nicht ganz so großen Stellenwert, wie man landläufig annimmt. Sexualmedizinerin Elia Bragagna: „Natürlich hat Sexualität in der Verliebtheitsphase – rein schon durch die Botenstoffe – einen massiven Stellenwert, aber das verändert sich mit der Zeit. Niemand kann ständig emotional am Vollgas stehen.“ Wenn sich eine Beziehung etabliert hat, bekommen andere Bereiche eine stärkere Wertigkeit. Sexualität rückt dann etwas in den Hintergrund, damit der Mensch im Gleichgewicht bleibt. „Es gibt keine Studie, in der die Sexualität an erster Stelle steht“, so die Expertin.
Qualität vor Quantität
Auch auf die Häufigkeit kommt es nicht an, ob ein Mensch seine Sexualität erfüllend empfindet. Aktuelle Studien haben ergeben, dass einmal in der Woche Sex durchaus gut und befriedigend ist. Meist kommt es auf das persönliche Umfeld der Menschen an, was in der Gruppe als „normal“ empfunden wird. Aber Sexualität wäre gar nicht so häufig angesagt, wenn es mehr um Genuss als um Häufigkeit ginge. Denn nur um routinemäßig das Programm abzuspielen, weil man sollte, so lange schon nicht hat, oder sonst die Beziehung bedroht sieht, ist nicht unbedingt das, was man als einen erfüllenden Sex bezeichnet. Elia Bragagna: „Es ist wichtig, keinen Sex zu haben, wenn einem nicht danach ist. Das ist wahrscheinlich das einzige Maß: Man sollte nur dann Sex haben, wenn Körper und Psyche sagen, das ist jetzt in Ordnung.“
Der kleine Unterschied
Männer und Frauen empfinden beim Sex tatsächlich durchaus unterschiedlich. Allerdings trägt hierzu die Hypothek der Geschichte der verschiedenen Geschlechter bei – „Männer müssen und wollen immer“. Allerdings meinen diese Männer sehr oft unbewusst statt Sex eigentlich Nähe. Denn sie erleben nur im intimen Zusammensein mit einer Frau diese Innigkeit. Elia Bragagna: „Sie trauen sich nicht, nur die Nähe zu suchen. Wenn sich dabei der Penis aufrichtet, ist vielen Männern nicht bewusst, dass das sogar ein Zeichen des Entspannungsnerves sein kann.“ Dann kommt der nächste Irrtum, den Männer unterliegen dazu: „Mann muss immer können und wollen.“ Daher drängen Männer dann oft Frauen zu Sex, obwohl sie eigentlich Nähe wollen.
Frauen hingegen wollen zuerst Intimität, um Sex zu haben. Der klassische Widerspruch lautet: „Ich wäre ja zärtlicher zu dir, wenn du öfter Sex hättest.“ – „Ich hätte öfter Sex, wenn du zärtlicher wärst.“ Da hakt es, vielleicht sollten beide Partner versuchen zu definieren, was es für den Mann bedeutet, wenn er Sex will, und was für die Frau, wenn sie Intimität will.
Elia Bragagna: „In der Realität ist es so, dass die Männer sich sehr bald aus dieser emotionalen Nähe verabschieden, die Frauen sich aus der sexuellen Nähe heraushalten.“ Dann sollten sich beide Partner bewusst machen, wenn man sich versprochen hat, dass man sich auf Dauer treu ist, ist man auch voneinander abhängig. Es gilt daher, eine gemeinsame Lösung zu finden, die emotional und sexuell passt.
Höhe- oder Streitpunkt Orgasmus
Auch beim Orgasmus tragen Frauen und Männer die Last und Mythen der Geschichte. „Die Studien sagen uns aber, dass der Orgasmus für die Frau nicht so wichtig ist. Dass Frauen auch nicht jedes Mal einen Orgasmus erreichen, wenn sie Sexualkontakt haben. Zudem legen Frauen auch mehr Wert darauf, wie der Weg zum Orgasmus aussieht“, so die Sexualmedizinerin.
Für den Mann bedeutet Orgasmus viel mehr, weil er „immer kommen muss“. Anhand der Sexual-mythen glaubt der Mann, dass er nur ein guter Liebhaber ist, wenn er der Frau einen Orgasmus besorgt. Elia Bragagna: „Das ist falsch. Denn für den Orgasmus ist jeder Mensch selbst verantwortlich. Der Mann kann der Frau nur helfen oder sie begleiten.“ Die Schwierigkeit ist, dass viele Frauen nicht gelernt haben, gut mit dem eigenen Körper umzugehen. Wenn eine Frau nicht berechnen kann, wann sie zum Orgasmus kommt, wird sie ihn auch nicht regelmäßig haben. Aber für viele Menschen ist der Orgasmus wichtig. Ihnen geht es nicht gut, wenn sie keinen Orgasmus haben, und daher müssen sie lernen, Wege zu suchen, damit sie ihn auch regelmäßig erleben. Elia Bragagna: „Andererseits ist es auch gut, nicht nur zielzentriert zu denken und einfach die sexuelle Begegnung mehr zu genießen. Oder vielleicht ist es auch sinnvoll, über einen anderen Zugang nachzudenken: Dass der Weg das Ziel ist.“